Wir leben in einer Welt, die übergeht von Predigern und selbsternannten „Life Coaches“, die uns sagen, wie man sein Leben leben soll, worum’s nämlich wirklich geht (hallo!?), und was man tun oder besser lassen sollte. Wir werden überschüttet von „inspirational quotes“ und Anleitungen für ein besseres Leben. Dazwischen gibt’s dann noch sämtliche Werbebotschaften, die ungefragt und ungewollt auf uns herabprasseln wie ein nie enden wollender Niagara Fall. Und dann gibt’s noch die hochglanzpolierten Bilder der perfekten Social-Media-Influencer, die Glam Chic verbreiten, dass einem vom Anschauen alleine schon schwindlig wird. Aja, und Politiker samt warmer Luft gibt’s auch noch. Und die „News“, die ja der Allgemeinbildung zugeschrieben werden, und die man sich als gebildet wirkender Mensch reinziehen muss wie das bessere Valium. Es ist wahrlich ganz schön viel. Aber hey, wir sind ja alle so individuell und besonders. Und jeder hat eine Meinung, oder? Aber ist diese Meinung wirklich deine? Oder bist du nur ein halbtoter Lemming, der halt irgendwas weitergibt, was er irgendwo aufgeschnappt hat und die Wahrheit der anderen als seine eigene lebt? Was denkst du eigentlich wirklich? Und wenn du das herausgefunden hast – so ganz ohne Beeinflussung der 791737490236 externen Stimuli, die uns jeden Tag einlullen wie ein krebskranker Wattebausch: Traust du dich auch zu dieser deiner Meinung zu stehen und diese offen kundzutun? Oder hast du eigentlich hauptsächlich Angst, dass du damit anecken könntest und eine Konfrontation an Land ziehen würdest, die eventuell nicht so cozy ist, dass du deinen Mittagsschlaf in trauter Schall-und-Rauch-Idylle weiterschlafen könntest?
Kanye West sagte in dem kürzlich veröffentlichten und ellenlangen, aber sehr sehens- und hörenswerten Interview mit Zane Lowe: “We’re living in an age where someone could be fired for what they think if they say it out loud. That’s the age – wake up! This is 2019. This is where we are at right now!“ Freie Meinungsäußerung und so. Yep, eine gefährliche Angelegenheit.
Kanye West, den ich als begnadeten Rapper feiere, avancierte mit diesem Interview übrigens zu einem meiner aktuellen Helden. Nicht, weil ich mich mit seiner neu entdeckten Gottesfürchtigkeit und seinem altbekannten Narzissmus so gut identifizieren kann, sondern weil er für mich der Anti-Lemming ist. Er tut das, was er will, sagt das, was er wirklich denkt, und ihm ist herzlich egal, ob die Außenwelt das mit einem „Amen“ absegnet oder nicht. Das trauen sich in der Tat die allerwenigsten – die meisten plaudern einfach in Papageienmanier irgendwelche Plattitüden nach und geben zwar vor, komplett abgeklärt zu sein und einen Scheiß auf die Meinungen der anderen zu geben, aber unter genauerer Betrachtung entpuppen sie sich als leere Hüllen, die beim leisesten Windhauch w.o. geben. (Und was dann wirklich dahinter ist, willst in den meisten Fällen gar nicht wissen.)
Schon 1976 hat sich Paul Watzlawick mit der Frage „Wie wirklich ist die Wirklichkeit“ auseinandergesetzt. Das ist eine wirklich grandiose Frage. Eine weitere ist: Wie wahrhaftig ist deine Meinung? Die eigene Meinung ist immerhin nicht mehr als eine Abstraktion deiner eigenen Welt, deiner Blase, in der du lebst. Sie auf ein größeres Ganzes zu projizieren und als absolute Wahrheit zu verkaufen, halte ich für größenwahnsinnig. Eine Meinung ist und bleibt immer subjektiv. Eine Fiktion. Sie erzählt deine Geschichte, nicht die der Nachbarin, hoffentlich auch nicht die deiner Eltern und schon gar nicht die der gesamten Welt. Eine Meinung kundzutun ist gleichzusetzen mit Storytelling. Es ist eine Geschichte. Die kann man gut finden, muss man aber nicht. Und das ist meiner Meinung nach der alles entscheidende Punkt, den unsere Gesellschaft immer mehr versucht, mit allen Mitteln zu negieren und in weiterer Folge zu bekämpfen.
Ein aktuelles Beispiel: Barbara Schöneberger – ihres Zeichens Moderatorin und Entertainerin- hat letzte Woche einen überdimensionierten Shitstorm über sich ergehen lassen müssen, weil sie sich auf ihrem Instagram Account explizit gegen Make-Up für Männer ausgesprochen hat. In über 30k Kommentaren auf ihren Post hagelte es Beschimpfungen und Verunglimpfungen, dass es selbst der schlagfertigen Moderatorin vorerst mal die Sprache verschlug. Vor ein paar Tagen folgte dann ihr Entschuldigungs-Video, ebenfalls auf Instagram. Kleinlaut sagte sie sinngemäß, dass sie das alles nicht so gemeint hätte und sie hoffe, dass jetzt alle Missverständnisse aus dem Weg geräumt worden seien, weil „das Ganze jetzt doch schon ganz schön große Formen angenommen [hätte], die [ihr] etwas unheimlich wurden.“ Den Anti-Männer-Make-up-Post hat sie inzwischen gelöscht. Aber ich mein – geht’s noch!? Kann die auf ihrem Instagram Account bitte ihre Meinungen kundtun, ohne dass sich jeder sofort als Opfer sieht oder als Anwalt der vermeintlichen Opfer? Sie findet Männer-Make-Up scheiße, so what? Kann man sich anhören (muss man nicht!), kann man gut finden oder nicht, und gemma. Moving on. Ich muss nicht aus jedem Seil, das am Wegrand liegt, einen Strick basteln, an dem ich mich selbst oder wen anderen aufhänge.
Und das Perverse ist ja – jeder redet von political correctness und Inklusion. Aber sobald sich die Möglichkeit eines Shitstorms auftut, lässt man die innerlich aufgestaute Aggression platzen wie eine alles vernichtende Atombombe. Politische Korrektheit, adios! Was Leute bei solchen Shitstorms alles rauskotzen, ist in den meisten Fällen emotional geladener Sondermüll. Aber hey, freie Meinungsäußerung. Ist doch ok, oder? Wen interessiert’s denn, dass unsere „Kultur“ immer mehr verroht? Und durch den Filter der Virtualität ist man doch bestens abgeschirmt. Da kann man sich fast alles erlauben. Willkommen im Wilden Westen, heyho!
Andere Geschichte: Florian Klenk verklagt Michael Jeannée und die Kronen Zeitung wegen übler Nachrede. Jeannée hat Klenk in seiner Kolumne u.a. als “verderbte Figur”, “skrupellosen Intriganten“, und “ruhigstimmigen Verbreiter von Unwahrheiten” bezeichnet. Das Wiener Landesgericht für Strafsachen wies das Verfahren ab. In dem Gerichtsbeschluss heißt es dazu: “Aber auch die Begriffe, die zunächst tendenziell als Tatsachenbehauptungen erscheinen mögen, jedenfalls nämlich die Bezeichnungen als (allen voran:) ‘Diffamierer’, weiters ‘Schmutzkübel- und Anpatzerchef’, ‘Intrigant’ versteht der Leser als kritische Werturteile, schon deshalb, da der Leser ohne Weiteres die allgemein bekannte Kolumne des Michael Jeannée als Ausdruck der persönlichen Meinung des Autors bezüglich der von ihm adressierten Personen erkennt, kurz, der Leser weiß, dass Jeannée regelmäßig Vorkommnisse bzw. die darin involvierten Personen (regelmäßig auch scharf) bewertet.“
Das sieht Klenk natürlich anders, er schreitet im gerichtlichen Instanzenzug entschlossen voran und will die Sache „ausjudizieren“. Nachdem in den Medien vom „Etappensieg“ Jeannés gegen Klenk die Rede ist, ist anzunehmen, dass es hier vor allem ums Gewinnen geht. So ein bissl Richard III – Flair, anno 2019.
Aber die Sache ist recht klar: Es ist Jeannées Meinung, und die darf er kundtun. Die Krone bietet ihm eine große Bühne, und der Rechtsstreit mit Klenk beleuchtet diese mit gleißendem Scheinwerferlicht. Ein Theater. Dass diesen traurigen Kasperl nach seinem Fremdscham erregenden Auftritt in „der Großen Chance“ überhaupt noch irgendjemand ernst nimmt, grenzt an ein schauriges Wunder. Aber in Österreich wundert man sich ja oft mal, was alles geht…
Apropos Wundern: Besonders belustigend finde ich aktuell auch Norbert Hofers peinliche Gehversuche auf TikTok, der derzeit wohl aufstrebendsten Social-Media App, die als Zielgruppe 13-24-Jährige adressiert. Der Bundesparteiobmann der FPÖ hat allen Ernstes vorletzte Woche ein Selfie-Video auf seinem TikTok Profil hochgeladen, in dem er – mit einem Hundefilter (!!!) versehen – allen „Lieben“ „ein schönes Wochenende“ wünschte.
Das hat die Welt noch gebraucht! Mich hat’s aus allen Wolken gehauen, als ich das gestern durch Zufall entdeckt habe. Aber gut, Leute, die sich ihr eigenes Grab schaufeln, sollte man nicht aufhalten. (Mehr gibt’s dazu eigentlich nicht zu sagen.)
Aber es ist schon ziemlich paradox: Auf der einen Seite haben wir ein quasi diktatorisches Regelwerk aus lethargischer Angepasstheit und politischer Korrektheit. Auf der anderen Seite versinken wir in der immer größer werdenden Bedeutungslosigkeit (Mood-Cloud: TikTok, fehlende Beziehungen bei gleichzeitiger Einsamkeit und Depression, inspirational quotes zum Saufüttern). Dazwischen ein großer Graben, der in regelmäßigen Abständen von Shitstorms durchfegt wird.
Ich halte tatsächlich die eigene Meinung für ein sehr rares und wertvolles Gut und die freie Meinungsäußerung als ein vom Aussterben bedrohtes Recht, von dem sich in Zeiten der 360° Verglasung kaum mehr wer traut, Gebrauch zu machen.
Das Problem fängt da an, wo man Meinungen (eigene wie fremde!) wie Fakten behandelt – Fiktion also mit Fakten vermischt oder gar vertauscht. Spätestens als erwachsener, mündiger Mensch sollte man diese beiden Sachverhalte recht klar auseinanderhalten können.
Des Weiteren wäre es mal ein ganz großer Wurf, wenn man andere Meinungen gelten lassen könnte, als das, was sie sind: Eine andere Meinung. Es gibt nämlich keine „richtige“ oder „falsche“ Meinung, also ist’s komplett widersinnig, deppert in der Gegend herumzuzetern, nur weil man dem anderen nicht die eigene Meinung überstülpen kann wie ein gefülltes Osterei.
Anja Plaschg alias Soap&Skin hat heuer im Februar die Amadeus Preisverleihung boykottiert, aus „Entsetzen“ darüber, dass sie in der selben Kategorie nominiert wurde wie Andreas Gabalier. Die IFPI erklärte in einem Statement dazu, dass beim Amadeus Award die „Vielfalt der Musikstile seit jeher im Zentrum der Preisverleihung [steht]“, und merkte an, dass „selbstverständlich dabei auch verschiedene Meinungen und Weltanschauungen aufeinander [treffen]“. Soap&Skin wurde für ihre Entscheidung, dem Amadeus Award fernzubleiben, mehrheitlich gefeiert und erhielt massiven Zuspruch. Ich fand’s einfach nur bescheuert. Weil ganz ehrlich – was ist der gesellschaftliche Mehrwert so einer Aktion? Erschließt sich mir nicht.
Jetzt mal ganz abgesehen von der Amadeus-Geschichte: Ich glaube tatsächlich nicht, dass jemals was Gutes dabei entsteht, wenn man andere Meinungen denunziert und seine eigene Meinung in überheblicher Manier als die glorreiche Wahrheit aufs goldene Podest erhebt. Agree to disagree. Kommunikation. Wertfreies Zuhören. Gegenseitiger Austausch. Ein toleranter und respektvoller Umgang miteinander. Das erscheint mir persönlich der nachhaltigere Weg. Sorry, wenn ich mich jetzt fast schon anhöre wie ein Kanye West bei seinem Sunday Service. Aber das ist meine Meinung. Die kann man gut finden, muss man aber nicht.