Ich hab grad den Mundschutz, den ich im Supermarkt bekommen habe, entsorgt und mich nochmal geduscht. Aus verschiedenen Gründen, aber einer davon war, dass mir vor diesem Mundschutz richtig geekelt hat. Der hat irgendwie seltsam gerochen. Vielleicht war’s auch ich, gell. Lmao. EGAL. Jetzt ist wieder alles gut, meine Bodylotion riecht wunderbar und ich sitze mit meinem Kaffee vorm Laptop (zum Glück nicht auf der Parkbank!) und habe ganz spontan beschlossen, heute mal ein bissl was über Meinungspluralität zu schreiben.
Wisst ihr, was das Wichtigste in der Coronakrise ist? – Ich höre jetzt einige von euch lauthals brüllen: „DAHEIM ZU BLEIBEN (FOR FUCK’S SAKE!!)“ Andere entgegnen: „Ruhig zu bleiben.“ „Positiv zu bleiben.“ „Produktiv zu sein.“ „Die News zu schauen.“ „Viel zu facetimen.“ „Spread love!“ Wieder andere: „Den Verstand nicht zu verlieren.“ „Nicht zu verzweifeln.“ „Nicht Amok zu laufen.“ „Nicht den Lebensgefährten, die Lebensgefährtin oder die Kinder umzubringen.“ „Nicht aus dem Fenster zu springen.“ Oder auch: „Genügend Alkohol / Antidepressiva / Weed / Kondome / Mundschutzmasken / Schlafmittel / Klopapier / [you name it] daheim zu haben.“ „Viel Sport zu treiben.“ „Den Humor zu bewahren.“ „Den Blick auf das Positive zu richten.“ „Kritisch zu bleiben.“ „Keine News zu schauen.“ „Irgendwie zu überleben.“ „Neue Geldquellen zu erschließen.“ „Das gesamte Leben umzukrempeln, um endlich glücklich zu werden.“ „Auszuharren.“ „An die Alten und Kranken zu denken.“ „Die Wirtschaftstreibenden vor dem Ruin zu bewahren.“ „Jeden Tag 5 TikTok Videos zu machen.“ „Die Situation als gegeben hinzunehmen.“ „Das Beste aus der Situation zu machen.“ „Nicht an sich, sondern an andere zu denken.“ „Nur an andere zu denken.“ „Im Sinne der Gemeinschaft zu handeln.“ „Abzuwarten.“ „Zu meditieren.“ Ihr seht – da gibt’s ja mal eine richtig große Anzahl an unterschiedlichen Meinungen. Jaja, ich hör jetzt schon die ersten aufbegehrenden Stimmen, die mich anfahren: „Herst, daheim bleiben ist keine Meinung, das ist Gesetz!“ Passt. Entspann dich, alles gut.
Ich hatte in den letzten Tagen richtig viele Gespräche (alle virtuell, keine Sorge! #spreadlove) und das Schöne ist, dass mein Freundes- und Bekanntenkreis sehr divers ist und ich daher ganz viele unterschiedliche Meinungen zu Ohren bekomme. Meinungsfreiheit ist nämlich eine echt super Sache. Neben der Versammlungsfreiheit ist die Meinungsfreiheit eine der wichtigsten Grundlagen der Demokratie. Das Gegenteil davon wäre Zensur und die wiederum ist bezeichnend für diktatorische Regime. Ich bin ziemlich froh, in einer Demokratie zu leben. Ihr hoffentlich auch? Sehr gut!
Meinungsfreiheit ist sogar ein Menschenrecht. Sie ist fest in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Artikel 19) verankert. In dieser steht:
Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht umfasst die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhängen und Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.
Dennoch – das mit der freien Meinung ist immer so eine Sache.
Ein ganz wesentliches Problem erscheint mir, dass die allermeisten Menschen nicht den Unterschied zwischen einer Meinung und einem Fakt raffen.
Reden wir doch einmal über die Bedeutung des Wortes „Meinung“. Der Duden unterscheidet zwischen Meinung als a) [eine] persönliche Ansicht, Überzeugung, Einstellung o. Ä., die jemand in Bezug auf jemanden, etwas hat (und die sein Urteil bestimmt) und b) im Bewusstsein der Allgemeinheit [vor]herrschende Auffassungen hinsichtlich bestimmter [politischer] Sachverhalte.
Okay. Kurzer Blick auf Wikipedia. Dort steht Folgendes:
Unter einer Meinung wird in der Erkenntnistheorie eine von Wissen und Glauben unterschiedene Form des Fürwahrhaltens verstanden. Nach einer verbreiteten philosophischen Begriffsverwendung ist das Meinen ein Fürwahrhalten, dem sowohl subjektiv als auch objektiv eine hinreichende Begründung fehlt. Dadurch unterscheidet sich das Meinen vom Glauben und vom Wissen. Von Glauben spricht man, wenn jemand eine Aussage für wahr hält, ihre Wahrheit also subjektiv als gesichert erscheint, obwohl der Glaubende keine objektiv zureichende Begründung dafür angeben kann. Der Unterschied zum Wissen besteht darin, dass der Wissende nicht nur von der Wahrheit der Aussage überzeugt ist, sondern auch über eine objektiv zureichende Begründung dafür verfügt.
Das ist spannend! Eine Meinung kann also auf gut Deutsch komplett aus der Luft gegriffen sein. Irgendwas. Der Unterschied zum Glauben ist, dass ich mir beim Glauben oft extrem sicher bin, sich also was komplett richtig anfühlt, was aber faktisch null mit der Realität zu tun haben muss. Blede Gschicht. Das heißt, das Einzige, was so wirklich wie die wirkliche Wirklichkeit ist, ist faktisch belegtes und belegbares Wissen. Facts, baby! Alles andere ist kunterbunter Krautsalat.
So, aber hey, ich les’ noch weiter. Wikipedia unterscheidet zwischen einer Lehrmeinung, einer persönlichen Meinung und einer öffentlichen Meinung:
- Eine Lehrmeinung wird durch die Expertise, das Wissen und das Nachdenken ihres Vertreters bestimmt. Anders als die persönliche Meinung ist sie nicht eine Frage von dessen Persönlichkeit. […]
- Unter einer persönlichen Meinung versteht man eine von direkter Betroffenheit, von individuellen Wertvorstellungen, Geschmack und/oder Gefühlen geprägte Einstellung eines Menschen gegenüber einem bestimmten Gegenstand. […]
- Persönliche Meinungen können zur öffentlichen Meinung werden, wenn sie in einer Gesellschaft öffentlich diskutiert und als vorherrschend und repräsentativ betrachtet werden. Zwischen der persönlichen Meinung einerseits und der öffentlichen Meinung andererseits bestehen vielfältige und komplexe Wechselwirkungen […].
Im Normalfall (wenn man davon ausgeht, dass der Mensch weder ein Papagei noch ein Lemming ist) gibt es also so viele unterschiedliche Meinungen auf dem Planeten wie es Menschen gibt. Und das ist auch völlig in Ordnung. Da der Mensch aber ein Rudeltier ist, wird er sich besonders wohl und behaglich fühlen, wenn er unter Menschen ist, die die gleiche Meinung haben wie er. Das verleiht Stärke und vermittelt Einheit und Zusammengehörigkeitsgefühl. Viele Menschen schließen sich daher völlig unkritisch einer anderen (der gängigen) Meinung an, weil ihnen das Gemeinschaftsgefühl wichtiger ist als ihre eigenen gelebten Werte und ihre eigene subjektive Wahrheit. Es erfordert also Mut, die eigene Meinung entgegen einer Mainstream – Meinung zu äußern und öffentlich zu vertreten – gerade in Zeiten von Social Media, wo jemand schneller in 527 Teile zerlegt ist, als er sich die Mundschutzmaske überziehen kann. Da muss man echt aufpassen. Es ist schon irgendwie sehr schräg.
Die Frage ist halt auch, warum sind Meinungen so dermaßen emotional aufgeladen? Wieso fühlt sich jemand von einer anderen Meinung angegriffen, ja schier bedroht? Was rennt da bitte falsch? Ich kann mir andere Meinungen anhören, und sie als das werten, was sie sind: Meinungen. Subjektiv gefärbte Einschätzungen einer subjektiv erlebten Wirklichkeit. Es ist komplett überheblich, anmaßend und arrogant, zu glauben, ich muss andere von meiner Meinung überzeugen, sie zu meiner Meinung bekehren und meine Denke zur göttlichen Wahrheit zu erklären. Wer bist du? God Almighty?! Ein Diktator?! Ein Sektenbruder?! Solange du kein Experte bist, der eigenständig und eigenhändig repräsentative Studien durchgeführt hat und die Ergebnisse anhand von Fakten belegen kann, verfügst du nicht über first-hand-knowledge. Das Einzige, was du also mit Sicherheit sagen kannst ist: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ (Danke Sokrates!) Und dass alle deine Bla-bla-blupps Meinungen sind (vielleicht auch nur die nachgeplapperten). Und die sind nicht „richtiger“ oder „falscher“ als die von anderen. Warum also aufregen? Na weil du dich anscheißt! Du hast Angst. Wir alle haben Angst. Es ist okay. Breathe in and out.
Anstatt also den anderen (die anderen) von der (geglaubten!!) „Wahrheit“ der eigenen Meinung (!) zu überzeugen, und sich darin zu battlen, wer jetzt mehr „weiß“ (lol), tut man gut daran, den anderen zu fragen: „Wovor hast du eigentlich Angst? Was sind deine Sorgen?“ Das scheint mir eine wesentlich sinnvollere Herangehensweise zu sein. Die verbindet nämlich und schafft Nähe, in einer Zeit, in der alle glauben, social distancing sei die beste Idee seit Erfindung der Glühbirne.
Meine Erfahrung ist, dass die Leute, die ganz vehement auf das Einhalten der Ausgangssperren pochen und jeden Spaziergänger der drei Schritte vors Haus setzt, am liebsten ermorden würden, Sorge tragen um einen engen Angehörigen. „Weißt du Conny, meine Mama ist über 60 und hat schwere Lungenprobleme. Wenn der irgendwas zustößt – das könnte ich nicht verkraften.“ Das verstehe ich zu 100%. Und auf so einer Basis kann ich eine Konversation führen. Weil da muss dann keiner mehr aggro sein oder auf dem high horse durch die Gegend galoppieren als wäre er Henry V. Da kann man sich dann darüber unterhalten, worum’s wirklich geht. Für jeden Einzelnen von uns. Weil die ganzen Milliarden an Meinungen, die gerade unter dem Deckmantel eines „Scheinwissens“ im Internetz herumkursieren, sind voll von Angst.
Und auch wenn ich so tue, als würde mein Herz nur für die anderen schlagen- in Wahrheit ist jeder bestrebt danach, seinen Arsch als erstes zu retten. Und das ist auch ziemlich logisch. Der natürliche Selbsterhaltungstrieb des Menschen, hallo!? Eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern, die gerade ihren Job verloren hat, wird andere Sorgen haben, als der Unternehmer, der versucht, seinen Betrieb inklusive Mitarbeiterschaft am Leben zu erhalten. Ebenso wird der junge, lebenshungrige Maturant, dessen Maturajahr ein Desaster ohne Maturareise ist, anders über die Sache denken als ein vom Dienst freigestellter Beamter, der in Lohn und Brot steht, in einer glücklichen Beziehung lebt und jetzt sein Leben chillt.
Also ja. Um nochmal auf die Frage zurückzukommen: Was ist das Wichtigste in der Coronakrise? Ich für meinen Teil glaube, dass echte und ehrliche Meinungsfreiheit und deren Erhaltung essenziell ist. Gerade und besonders in dieser Zeit. Und dass man gut daran tut, Meinungen von Fakten zu unterscheiden. Gegenseitiges Verständnis. Empathie.
Und was ich mir wünsche? Eine 360° Perspektive. Und dass Entscheidungen faktenbasiert getroffen werden, und nicht auf Grundlage von Angst, Machtgier oder Kontrolle.