Habt ihr Christian Schachingers RAF Camora Rezension Ende Februar gelesen? Wenn man sich die so durchliest, besteht kein Zweifel daran, dass er schon vor dem Konzert angepisst war, weil er dort jetzt hingehen muss. Dürfte ziemlich eine Qual für ihn gewesen sein. Ich stell’ mir das in etwa so vor:
(In der Standard-Redaktion.)
Chef: Geh Christian, wir brauchen noch wen, der zum RAF Camora geht – weißt eh, der kommt ja jetzt 2 Tage hintereinander in die Stadthalle, da müss’ ma schon drüber schreiben. Machst du das, okay?
Christian: Na geh bitte, ned schon wieder so ein Oasch Konzert. Ich war schon auf über 3000 Konzerten, und es ist immer „more of the same“. Ich hab’s dir eh schon gesagt – ich möchte mich nur mehr mit Literatur und Allfälligem beschäftigen. Diese Konzerte geh’n ma schon olle so am Oasch. Helene Fischer, Howard Carpendale – sag ich ok. Aber RAF Camora? Wos is des?!
Chef (lacht leicht auf): Ich glaube es nennt sich „Gangster-Rap“. Du bist ja eh so ein Gangster. Du machst das schon! (klopft ihm väterlich auf die Schulter, dreht sich um und will gehen)
Christian (trotzig schnaubend): Ja super, aber nur, wenn du den Karli dafür das nächste Mal zum Gabalier schickst, weil das sag ich dir, da geh ich auch fix nimmer hin. Und vorbereiten tu ich mich auf den Idioten auch nicht, weil erstens werd ich derrisch bei dieser scheiß Balkanmusi und zweitens is ma des einfach zu tiaf. Auf jeder Ebene!
Chef: Ist ok. Solang du mehr als 140 Wörter schreibst, passt das schon.
Christian: Määh.
Hach ja. Ein paar Infos und Wortfetzen (z.B. das mit den 3000 Konzerten und dem „more of the same“) habe ich übrigens aus Schachingers Interview mit noisey herausgepickt und frei in meinen (fiktiven) Dialog-Kontext eingebettet. Das ist überhaupt ein aufschlussreiches Interview. Da erfährt man unter anderem, dass „Hip Hop […] für [ihn] immer ein fremder Planet [war] eigentlich“. Das ist ziemlich kurios, und es erklärt vieles. Weil ganz ehrlich – wenn’s mich ein Fußballspiel kommentieren lassen würden, würd ich vermutlich auch über die Farbe der Trikots berichten und mich unverständlich zeigen, wenn die Fußballspieler sich gegenseitig foulen und dann anfucken (Hilfe, Gewaltpropaganda!). Und die wahnsinnig grölenden Fußballfans, die sich im Bier ertränken, die muss man auch einmal aushalten. Also, ja, ich kann nachempfinden, wie Schachinger sich am RAF Camora Konzert gefühlt haben muss.
Ein paar andere gute Sager, waren, dass er den „Dialekt“ vom Yung Hurn nicht aushält (haha) und seine Kinder aufs „Gender-Gymnasium gehen“. (Was bitte ist ein Gender Gymnasium? Kenn nur ich das nicht?? Es klingt jedenfalls so, als würde es nicht in Rudolfsheim-Fünfhaus stehen.) Und zu Money Boys Lyrics befragt, meint er: „Grundsätzlich darf jeder Idiot singen, was er will. […] Es ist teilweise einfach Oasch. Ich kenne diese Lebenswelten nicht. Vielleicht wächst sich das aus, wenn man dreißig ist.“ Ja gut, also der Money Boy ist Baujahr 81, also mit dem Alter hat das nicht so viel zu tun, gell. Schachinger gibt außerdem zu, dass er „gerne [streitet]“. Hmm glaubt man gar nicht, so handsam wie er rüberkommt (lel).
Jedenfalls ja – es ist eine Sache, die Sprache von RAF Camora zu verteufeln. Man muss Sexismus, Drogen- und Gewaltverherrlichungen nicht gut finden, auch nicht im „Gangster-Rap“, is ok. Aber die Tatsache, dass er dann seine Fans (d.h. – die, die sich das Ticket nicht leisten konnten – die anderen sind „gut erzogene[…] Schüler der Gymnasial-Oberstufe“) als „kleine junge Idioten da draußen in der benachbarten Lugner-City“ abstempelt, ist für mich nicht minder aggro. Dazu eine überheblich anmutende class consciousness, die für den Standard eigentlich relativ ungewöhnlich ist, oder? Und spätestens bei seinem letzten Satz, wo er schlussfolgert: „Sorge ist angebracht“, möchte man ihm direkt sagen: „Bitte nimm doch den Zeigefinger wieder runter. Du musst ja schon einen Krampf haben…“
Jetzt hab’ ich ziemlich lang über den Schachinger geredet. Kurzer Schwenk zu RAF Camora: Also ich muss ja ehrlich gestehen, ich höre ihn nicht. Kenne ein paar seiner Songs, aber seine Musik hat mich irgendwie nicht abgeholt. Nicht wegen der Lyrics, sondern allgemein. Zweifelsohne gebührt ihm aber Respekt, weil – mal ganz ehrlich – welcher Künstler schafft es, 2 Tage hintereinander eine Stadthalle auszuverkaufen? Da gibt’s nicht viele. Und ein derartiger Erfolg fällt einem nicht auf den Schädel, isso. Darüber hinaus trifft er ganz offensichtlich einen Nerv in der Gesellschaft und schafft für eine Vielzahl an (jungen) Leuten eine Identifikationsfläche. Wobei… „Jeder hört Hip Hop, aber keiner kann sich damit identifizieren“ war eine Aussage aus dem Gespräch mit Niko Rode, die mir zu denken gegeben hat. Offenbar geht’s nämlich auch gar nicht primär um die Lyrics, sondern um das vermittelte Lebensgefühl. Und um den Künstler an sich. Wer das ist, wie der so drauf ist, was er verkörpert, wie er sich auf Instagram präsentiert (RAF hat 1,5 Mio. Followers), was er für Kleidung trägt (Nike ist ganz klar besser als H&M). Und auch um den Sound. Um den geht’s zum Glück auch.
Ich habe Samira (Dezaki) und Niko gefragt, ob sie Hip Hop als Spiegel der Gesellschaft sehen. Samira, die selber rappt und sich viel mit amerikanischem Rap beschäftigt, meinte, dass Hip Hop die Gesellschaft eher widerspiegelt als das bei anderen Musikrichtungen der Fall sei, und dass die aktuellsten Themen im Hip Hop immer sofort aufgegriffen werden. Für Niko ist zumindest bei deutschem Rap „ziemlich viel Fake“. Diese Einschätzung teilt auch ein Standard-Leser (Radlerwahn68), der kommentierte: „Deutscher Gangster Rap ist so authentisch wie jodelnde Chinesen.“ Es ist halt wie in einem Film: Nur weil du im Film wen umbringst, musst du nicht im RL auch ein Mörder sein. Aber im Film solltest du’s halt glaubhaft rüberbringen. Dann passt das schon.
Ich habe mich bis letzten Sommer überhaupt gar nicht mit Gangsta-Rap beschäftigt. Ich hatte so ein bissl eine Schachinger’sche Überheblichkeit diesbezüglich in mir. Bis ich einen Typen kennenlernte, der mir allen Ernstes erklärte, er hört total gern Bushido, er findet den gut. Ich so (komplett ungläubig): „Was echt?!?!“ Und ich weiß noch, dass ich mir damals dachte – oag, das hätt’ ich mir von ihm nie gedacht. Einfach, weil er mir viel zu intelligent dafür vorkam und zu unaggressive. Aber dann hab’ ich mir gedacht, ja gut, wie viele Lieder kennst du eigentlich wirklich von ihm, und hab meinen Judgmentalism als Anlass dafür genommen, mir Bushido mal bissl genauer auszuchecken. Und ich sag’s euch ehrlich – ich hab dann plötzlich den Appeal von dem gecheckt. Ich mein, klar, er verwendet „harte Sprache“, disst so ungefähr jeden im Umkreis von zwei Globussen, aber ich mag seine Stimme (kommt im Gegensatz zu z.B. der Straßenbande 187 nicht so prolo-gepresst daher), er hat teilweise sehr gute Lines, Rhymes und Beats, und – jetzt kommt’s! – ich kann auch der Aggression in seinen Texten einiges abgewinnen. Ich habe z.B. in meiner Workout – Playlist Bushidos „Fotzen“. Eine ganz hoarte Nummer. Da rappt er u.a. die folgenden Lines (Parental Advisory – explicit context!):
Ich bin Einzelgänger // Wir sind reiche Männer // King Bushido macht die Scheiße schon ein Weilchen länger // Kleine Schwuchtel mit dei’m Unterlippenpiercing // Ein falsches Wort und deine Zunge spürt Rasierklingen // Guck mich an, ich mach Berlin wieder hart, Nutte // Electro Ghetto Rap in deinen Arsch, Nutte // GTA Vice City // Und jetzt erhäng’ ich Y-Titty, ihr scheiß Hippies
Das hör ich mir an. Am Laufband, bei 10 km/h. Super ist das. Aber ganz ehrlich – zu Celine Dion kann man einfach nicht so gut laufen. Da ist Bushido wesentlich besser. Und klar, der Text ist 100% politisch inkorrekt, sexistisch, gewaltverherrlichend blah blah blah. Label the shit out of it. Es ist wurscht. Es ist ein Lied. Er sagt’s nicht zu mir. Wenn der Bushido real vor mir steht und zu mir sagt: „Du kleine Nutte, ein falsches Wort und deine Zunge spürt Rasierklingen“ – würd ich die Polizei anrufen. Aber so? Das ist künstlerische Freiheit, hallo. Ich darf in einem Lied ausdrücken, was ich ausdrücken will und zwar genauso wie ich’s ausdrücken will. Das ist meine Meinung. Wenn ich anfange, Kunst zu zensieren, wird’s eine Gefälligkeit. Und das sollte Kunst nie sein (müssen).
Maurice Ernst sagte neulich in seinem wirklich großartigen Interview mit Diffus: „Gute Popmusik ist immer ein bissl ein Spiegel oder ein Kommentar.“ Ich sage: Jede Art von Musik ist ein Spiegel der Gesellschaft. Weil du als Künstler immer etwas zum Ausdruck bringst, die Sprache dafür ein (weiteres) Vehikel ist und du nicht nicht Teil der Gesellschaft sein kannst. Maurice hat das ziemlich treffend folgendermaßen subsumiert:
Es ist eine Doppelmoral da, die ist v.a. auch in der Musik zu sehen. Wir sind relativ verkorkst auf eine Art und Weise, hab ich’s Gefühl, alle miteinander. Wir denken eine sexuelle Freiheit, aber sind nicht fähig, ihr gerecht zu werden. Aus verschiedensten repräsentativen Gründen, glaub ich. Weil jeder eigentlich sich nicht gut genug ist. Und weil wir eigentlich alle einen Wettkampf laufen. Somit ist es sehr schwer, sich einfach zu öffnen. […] Weil das ist gefährlich, man wird verletzt. Man ist nicht tru oder man hat nicht das Selbstvertrauen, das man eigentlich haben müsste, um so zu leben. Und das wird dann gebrochen (dieses Problem) von sehr vielen Hip Hoppern, die das Sexuelle dann so in den Mittelpunkt schieben, damit die Leute sich abreagieren können auf irgendeine Art und Weise als wären sie sexuell eh frei – was sie de facto aber leider nicht sind. Deswegen brauchen sie die Musik, um das zu leben, weil sie’s in der Realität nicht leben können.
DAS!!!!! Genau DAS!!! Die Musik als Projektionsfläche der eigenen, ungelebten, unterdrückten, abgespaltenen „Schattenseiten“. Und das betrifft das Sexuelle, aber auch die Wut, die Aggression, die Gewalt. Und wenn das wer stellvertretend für mich auslebt, geht’s mir selber auch ein bisschen besser. Mein Shrink sagte mal zu mir: „90% der erwachsenen Bevölkerung sind auf dem Stand eines 3-Jährigen, wenn’s um den Umgang mit Wut geht.“ Weil die meisten von uns einfach nicht gelernt haben, konstruktiv mit Wut umzugehen. Wut ist ein sehr un-lieb-sames Gefühl, und daher lernt man schon als Kind, das möglichst zu unterdrücken. Aber es ist ca. so, wie wenn du sagst auf der Mariahilferstraße dürfen jetzt keine Sandler mehr sitzen. Jo. Eh. Aber deswegen gibt sie’s ja trotzdem. Das Grundproblem ist dadurch nicht beseitigt, nur müssen sich die anderen halt nicht mehr damit auseinandersetzen. Shiny on the outside. Und genauso macht’s meiner Meinung nach NULL Sinn, herzugehen, und zu sagen Gangsta Rap darf jetzt nicht mehr drogen- und gewaltverherrlichend, sexistisch oder sonst was sein. Im Gegenteil. Es IST so, weil unsere Gesellschaft so ist (zum einen) bzw. weil (zum anderen) unsere Gesellschaft ganz offenbar ein Ventil braucht. Es kann sich leider ja auch nicht jeder einen Therapeuten leisten. Da ist Gangsta-Rap billiger. (Ok, das war ziemlich eine Provokation, ist mir klar.)
Aber ja. Ich denke mir, Wut ist ein großes Thema. Und wenn man sich überlegt, was eigentlich der Sinn von Wut ist, also warum Wut entsteht, kommt man drauf, dass es ein sehr sinnvolles Gefühl ist: Es zeigt einem die eigenen Grenzen an, bzw. Grenzüberschreitungen von außen. Ziemlich wichtig. Und wenn man dieses Gefühl ständig unterdrückt, und nicht für sich einsteht, fühlt man sich zwangsläufig ohnmächtig, und verfällt in eine Opferrolle. Huhu. Habt ihr euch schon mal gefragt, warum 2-3x mehr Frauen an Depressionen leiden als Männer? Hmmmm… Kleines Guessing Game.
Ich hör jetzt auf. Und hör mir Elton John & George Michael „Don’t let the sun go down on me“ auf Lautstärke 90 an (danke Maurice!). Da kommen nicht mal Bitches drin vor. Oag.